Kategorien
AP1000 Druckwasser Reaktormodelle Reaktortypen

Irgendwann wird noch jeder Reaktor fertig

Fast auf den Tag genau, nach zehn Jahren Bauzeit, ging der Reaktor Vogtle 3 (AP1000) endlich ans Netz. Dazwischen lag die Insolvenz des Herstellers Westinghouse und der Totalverlust des parallelen Projekts VC Summer – sogar mit Haftstrafen für Beteiligte. Wie konnte es zu einem solchen Disaster kommen?

Die ersten vier

Die ersten Reaktoren dieses neuen Typs (FOAK) wurden ab 2009 in China errichtet: Sanmen 1 (Bauzeit in Monaten: 110), Haiyang 1 (106), Haiyang 2 und Sanmen 2 (104). Hier kann man immerhin eine Lernkurve von einem halben Jahr bei den Doppelblöcken erkennen. Dies ist typisch beim Bau gleicher Reaktoren. Die Bau- und Montagekolonnen wissen nach dem ersten Mal wie es geht. Fehler im Ablauf werden bei den Folgeaufträgen vermieden. Ein halbes Jahr hört sich erstmal wenig an, ergibt aber allein bei den Finanzierungskosten einen mehrstelligen Millionenbetrag. Inzwischen sind die Blöcke Sanmen 3 und 4 und Haiyang 3 und 4 in Bau und Lianjiang 3 und 4, sowie Lufeng 5 und 6 beauftragt. Hierbei handelt es sich um die chinesische Lizenz CAP1000 mit steigender Eigenproduktion bei allen Komponenten. Es kann davon ausgegangen werden, daß schon bei diesen Projekten die in China übliche Bauzeit von etwa 60 Monaten erzielt wird. Hinzu kommen die günstigeren Material und Lohnkosten bei der Eigenfertigung. Die Kosten werden mit umgerechnet 2500 USD pro KW angegeben. Eine Bewertung ist müßig, da Finanzierung und Preise in einer sozialistischen Planwirtschaft ohnehin politisch gesetzt sind. Gleichwohl kommt die Serienfertigung diesem Reaktorkonzept voll entgegen – besonders, wenn man wie China eine leistungsfähige Schwerindustrie und Werften hat. Es ist also kein Zufall, daß sich der weitere Ausbau mit Druckwasserreaktoren auf die Typen Hualong und CAP1000 zu beschränken scheint. Die „Suchphase“ der Chinesen ist beendet. Jetzt beginnt der volle Ausbau, wie einst in Frankreich.

Die Westinghouse Tragödie

Druckwasserreaktoren haben sich zu den Arbeitspferden der Kerntechnik entwickelt. In der Welt – einzige Ausnahme ist Russland – beruhen fast alle dieser Reaktoren auf Lizenzen von Westinghouse. Wie haarig diese Situation sein kann, zeigen gerade die Auseinandersetzungen zwischen Korea und den USA bezüglich des Exports des APR-1400 in Drittländer. Wieviel Westinghouse steckt noch darin und welche Abkommen über Exportgenehmigungen wurden eventuell verletzt? Man erkennt, wie klangvoll auch heute noch der Name ist. Allerdings kam auch Westinghouse mit dem Niedergang der Kerntechnik im vorigen Jahrhundert permanent in wirtschaftliche Schwierigkeiten. 2006 wurde Westinghouse von Toshiba für 5,4 Milliarden USD übernommen. Toshiba war zu diesem Zeitpunkt ein japanischer Gemischtwarenladen, der auch Kernkraftwerke gebaut hat. Das vermeintliche Schnäppchen entwickelte sich zu einem Alptraum. Die Misere nahm mit dem Erwerb von Stone & Webster (S&W) von der Chicago Bridge & Iron Company (CB&I) für 229 Millionen USD durch Westinghouse im Jahr 2015 Fahrt auf. S&W war einst ein renommiertes Bauunternehmen mit jahrzehntelanger Erfahrung auf dem Gebiet der Kernkraftwerke. Zum Zeitpunkt des Kaufs ging man von einem Firmenwert von $ 87 Millionen aus. Toshiba stellte aber fest, daß der „Goodwill“ (Prämie, die ein Erwerber über den Wert der materiellen Vermögenswerte eines Unternehmens, wie Fabriken und Ausrüstung, zahlt) leider in mehreren Milliarden Dollar finanzieller Verpflichtungen bestand. Ein wesentlicher Grund waren die gemeinsam herein genommenen Aufträge für acht AP1000. Die bereits absehbaren Kostenüberschreitungen gingen nun voll zu Lasten von Westinghouse. Darüber entsprang ein erbitterter Rechtsstreit zwischen Toshiba und CB&I. Er endete mit Vergleichen und der vollständigen Trennung zwischen Shaw und Toshiba. Shaw hatte ursprünglich Verträge zum gemeinsamen Bau von ABWR mit Toshiba abgeschlossen, hatte aber 2013 CB&I übernommen. Das Ganze hat wenig mit Technik und Sachanlagen zu tun, sondern mehr mit „Finanzkasino“. Jedenfalls verpflichtete sich Toshiba gegenüber den Kunden, für Vogtle eine Entschädigung von 3,68 Milliarden USD und für VC Summer 2,168 Milliarden USD zu zahlen, denn Toshibas (inzwischen) Tochter Westinghouse hatte ja durch ihre Insolvenz den Liefervertrag zu diesem Zeitpunkt nicht erfüllt. Am Rande sei bemerkt – wie auch im Fall Olkiluoto – werden in deutschen Medien immer astronomische Baukosten genannt, um den Bau von Kernkraftwerken zu diskreditieren. Dies ist mitnichten so, den Schaden haben maßgeblich die Hersteller zu tragen. Auch bei KKW gilt, wer etwas verkauft, was er anschließend nicht fristgerecht liefern kann, muß selbst für den Schaden aufkommen.

VC Summer

Das Projekt VC Summer ist unwiederbringlich gescheitert. Der Eigentümer Scana Corporation gab die kombinierten Betriebslizenzen (COLs) im Dezember 2017 an die NRC zurück. Damit ist jeder Weiterbau – auch durch jemand anderes – ausgeschlossen. Auch das wieder eine Finanz- und Steueroptimierung: Der ursprüngliche Bauherr South Carolina Electric & Gas Company (SCE&G) gehört inzwischen der – weit aus größeren – Scana. Durch den Totalverlust kann diese Muttergesellschaft die entstandenen Verluste von rund 2 Milliarden USD steuerlich absetzen. Inzwischen wurde selbst Scana vollständig von Dominion Energy geschluckt. Ein weiteres Stück aus dem Finanzkasino. Inzwischen endete das ganze Theater sogar mit mehrjährigen Haftstrafen für einige Manager. Santee Cooper – die ursprünglich einen Anteil von 45 % an dem Projekt VC Summer hielten – kämpfte bis 2019 vor Gericht, um die „Verwertung“ der bereits gelieferten und teilweise eingebauten Komponenten. Es wurde ein Vergleich geschlossen, nach dem Santee Cooper das alleinige Recht für die Vermarktung erhielt. Die Erlöse für große nicht installierte Komponenten werden 50–50 aufgeteilt, während Santee Cooper für große installierte Komponenten 90% und Westinghouse 10% erhält. Für andere Geräte, die in Nuklearprojekten verwendet werden könnten, gehen 67% des Erlöses an Santee Cooper und 33% an Westinghouse. Die ukrainische Energoatom will fünf AP1000 von Westinghouse errichten lassen. Nach einer durchgeführten Studie könnten die in VC Summer vorhandenen Komponenten für mindestens einen Reaktor ausreichen. Es ist geplant, den bereits von den Sowjets angefangenen Block Khmelnitsky 4 (und eventuell auch Khmelnitsky 3) damit fertig zu bauen.

Vogtle

Neuartig beim AP1000 ist die Fertigung von Modulen in Fabriken, die erst vor Ort mit Beton gefüllt werden. Die „Stahlbleche und Verstärkungen“ dienen dabei als verlorene Schalungen und Bewehrung. Wenn es richtig funktioniert, ergibt sich eine Einsparung an Arbeiten auf der Baustelle. Allerdings ist der Reaktor so groß, daß die Sektionen noch vor der Montage auf der Baustelle zu Baugruppen zusammen geschweißt werden müssen, da sie zu groß für den Transport auf Straße und Schiene sind. Dies erfordert jedoch einen enormen Aufwand für die Detailplanung und vor allem die Qualitätssicherung. Wegen der langen Pause im Bau von Kernkraftwerken waren die Zulieferer wie z. B. Chicago Bridge & Iron in Lake Charles, Louisiana nicht genug mit den Regularien der Genehmigungsbehörden vertraut, was sogar zu fünfstelligen Geldstrafen führte. Es kam zu erheblichen Nacharbeiten und Terminüberschreitungen. Nach der Pleite von Westinghouse wird die Baustelle nahtlos durch Southern Nuclear als Projekt Manager und Bechtel für die Bauleitung weiter betrieben – die Lage verbessert sich merklich. Vogtle ist ein warnendes Beispiel für alle, die meinen, man kann 30 Jahre mit Neubauten aussetzen und dann zu gleichen Bedingungen weitermachen. Tatsache ist, daß das einem Neuanfang gleich kommt, da praktisch eine ganze Generation übersprungen wird und deren praktische Erfahrungen unwiederbringlich verloren gegangen sind. Durch Vogtle ist überhaupt erst wieder eine Zulieferkette in den USA aufgebaut worden.

Der Einfluß der Änderung der Spielregeln vor dem Anpfiff

Westinghouse erhielt schon 1999 die Zulassung für seinen AP600. Nach allgemeiner Kritik, daß die Leistung zu gering sei, reichte Westinghouse im März 2002 den AP1000 zur Design Certification Application (DCA) ein und erhielt von der NRC am 6. März 2006 eine Zertifizierung. Der AP1000 ist eine vergrößerte Weiterentwicklung des AP600. Per Definition ist der Baubeginn eines Kernkraftwerks der Moment, in dem der erste Beton für die Grundplatte fließt. Inzwischen ist es anerkannter Standard in der Welt, keine Änderungen an der Genehmigung mehr während der Bauzeit zu verlangen, weil dies immer einen Rattenschwanz von Umbauten nach sich zieht. Scheinbar war es aber den Vertragspartnern nicht klar, wie lange der Vorlauf eines solchen Großprojektes ist: Von der Detailplanung über Vertragsverhandlungen bis zur Kostenkalkulation. Der Auftraggeber Georgia Power reichte im August 2008 bei der Georgia Public Service Commission (PSC) einen Antrag auf Zertifizierung der Vogtle-Einheiten 3 und 4 ein. Die PSC von Georgia genehmigte die Notwendigkeit und die Kostenwirksamkeit und erteilte die Genehmigung zur Umsetzung der vorgeschlagenen Vogtle-Erweiterung im März 2009. Zu diesem Zeitpunkt war damit alles festgezurrt zwischen den Beteiligten: Netzbetreiber, Auftraggeber und Hersteller. Bei einem solchen Kraftwerk umfassen allein die technischen Spezifikationen mehrere Ordner. Hinzu kommen noch die Kalkulationen, Verträge und Behördenauflagen. Bei einem „Erstling“ (FOAK) wie hier, ist für die Ausarbeitung ein Planungszeitraum von zehn Jahren realistisch, bevor der erste Beton fließen sollte. Wird parallel gebaut und geplant (z. B. Klinikum in Aachen, Berliner Flughafen, diverse Bahnhöfe etc.) ergibt das zwangsläufig eine Kostenexplosion und eine „ewige Baustelle“. Diese Tatsache scheint leider nur in die Köpfe von Ingenieuren zu dringen, nicht aber in die von Beamten, Politiker und Betriebswirtschaftler.

Die wirtschaftliche Katastrophe für Vogtle und VC Summer nahm am 12. Juni 2009 mit der Verkündigung neuer Regeln für Flugzeugabstürze durch die Genehmigungsbehörde NRC ihren Lauf. Der zusätzliche Gewinn an Sicherheit durch den Übergang von „Kampfflugzeuge“ auf „Verkehrsflugzeuge“ ist zwar marginal – sonst hätte man auch alle laufenden Reaktoren nachrüsten müssen – aber durchschlagend. Die „Atomkraftgegner“ wußten schon was sie fordern: Die sich selbst erfüllende Prophezeiung „Atomkraft ist viel zu teuer“. Natürlich gilt das nur für Länder, in denen sie entsprechend politisch stark sind und ihre „Große Transformation“ durchsetzen können. Jedenfalls war die Konstruktion des AP1000 mit einem Schlag Makulatur. Die gesamte Aussenhülle mußte neu konstruiert werden, die Fundamente vergrößert, der gesamte Erdbebenschutz neu gerechnet werden usw. Da dies z. B. auch auf die passive Wärmeabfuhr bei Notkühlung zurück koppelt, waren drei iterative Durchgänge erforderlich. Tausende sinnlose Arbeitsstunden in einer Projektphase, wo jede helfende Hand für die Detailplanung und Vorbereitung der Bauphase gebraucht worden wäre. Es gibt keinen magischen Trick, mit dem man am Anfang vergeudete Zeit wieder zurückgewinnen kann.

Interessant ist nur, warum keiner die Idee hatte, einen lächerlichen Bruchteil der zu erwartenden Milliarden Mehrkosten vorab zu investieren, um sich gegen diese Entscheidung zu wehren. Ein paar hundert Millionen für PR und Hollywood hätten sicherlich ausgereicht, die gesamte „Anti-Atomkraft-Bewegung“ als Scharlatane zu entlarven und ihre wahren Beweggründe offen zu legen. Statt dessen scheinen beide Parteien zu glauben, man kann Kosten straflos auf die Stromverbraucher abwälzen.

Die Wiedergeburt von Westinghouse

Westinghouse ist inzwischen wieder ein gefragter Partner beim Neubau. Man sucht bewußt die Nähe kapitalstarker „Fertiger“, wie Hyundai und erfahrene Betreiber, wie KEPCO. Die am Boden liegende Westinghouse wurde 2018 von Brookfield Business Partners für kleines Geld übernommen. Brookfield ist ein kanadischer Vermögensverwalter, der hauptsächlich in öffentliche Gebäude und Anlagen (Kläranlagen, Stromversorger etc.) investiert ist. Sie konzentrierten das Geschäft von Westinghouse wieder auf den nuklearen Sektor, senkten die Kosten und bauten die innere Struktur um. Innerhalb weniger Jahre erzielten sie mehr Gewinne, als die Investition gekostet hatte. Offensichtlich hatte sonst keiner erkannt, wie ertragsstark allein das Brennstoff- und Servicegeschäft von Westinghouse war. Westinghouse ist eine echte „Cashcow“. Damit stellte sich aber auch gleichzeitig die Frage, wie es mit dem Neubaugeschäft weitergehen sollte. Man suchte nach einem Partner und fand ihn in der kanadischen Cameco. Cameco ist ein kanadischer Bergbaukonzern, der zu den größten Uranproduzenten und Händlern der Welt gehört. Cameco übernahm 51% und die Tochter Brookfield Renewable behielt 49%. Brookfield Renewable bezeichnet sich selbst als „global clean energy supermajor“. Hat da jemand die Zeichen der Zeit erkannt? Das Geschäft in Wind und Sonne ist abgesahnt, aber die Geldströme fließen wegen der „Klimakatastrophe“ immer noch. Brookfield hat zur Zeit angeblich rund 750 Milliarden USD als alternative Investments in der Verwaltung. Ein paar AP-1000 sind da Peanuts. Das Konzept von Cameco – eine kanadische Rosatom zu bilden – ist etwas visionär: Lieferung von Kernkraftwerken, Finanzierung, Service und Brennstoff aus einer Hand.

Westinghouse und Europa

Der AP-1000 ist unbestritten das modernste Konzept eines Druckwasserreaktors mittlerer Leistung (1117 MWel). Mehrere Reaktoren sind bereits mit besten Ergebnissen (geringste Zeiten für den Wechsel der Brennelemente und notwendige Wartungsarbeiten) in Betrieb. Das Risiko für Neubauten ist also gering – man muß sich nur nicht einmischen, sondern die Fachleute bauen lassen. Es verwundert deshalb nicht, daß einige Projekte in unserer Nachbarschaft in Vorbereitung sind: Niederlande 2 Reaktoren, Polen 3–6 und Tschechien 1–2. Da die deutsche kerntechnische Industrie aus ideologischen Gründen zerstört worden ist und die Franzosen sich mit ihrem EPR etwas verhoben haben, sind die Chancen für Westinghouse sehr gut, die Ausschreibungen zu gewinnen. Einziger ernsthafter Konkurrent ist der APR-1400 aus Korea. Es ist deshalb ein kluger Schachzug, koreanische Konzerne mit ins Boot zu nehmen.