Müssen alle KKW sofort abgeschaltete werden?
Am 1. März 2016 titelte REUTERS NRC-Ingenieure fordern Reparatur von Kernkraftwerken und am 4. März setzte HUFFPOST noch eins drauf: Gefährlicher Konstruktionsfehler droht die Flotte der KKW abzuschalten. Was verbirgt sich hinter diesen Tatarenmeldungen?
Public petition under section 2.206
Für einen solchen Vorgang läßt sich nur schwer eine deutsche Übersetzung finden, weil er uns kulturell eher fremd ist. In den USA geht man selbstverständlich davon aus, daß in allen Behörden Dienstwege außerordentlich verschlungen sind. Der normale Weg von unten bis oben ist nicht nur lang, sondern kann auch schnell in eine Sackgasse führen. Dies muß nicht einmal aus „Boshaftigkeit“ geschehen, sondern immer neue „Gesichtspunkte“ erzeugen auch immer neue Fragen. Deshalb gibt es in der amerikanischen Atomaufsicht — Nuclear Regulatory Commission (NRC) — eine Überholspur in der Form einer Petition.
Jeder Mitarbeiter — in diesem Fall war es eine Gruppe aus sieben Ingenieuren — kann eine (formalisierte) Stellungnahme abgeben. Diese muß dann innerhalb von 30 Tagen beantwortet werden. Das Besondere daran ist, daß diese Eingabe und die Antwort öffentlich sind. Es ist damit ein sehr scharfes Schwert in den Händen der „einfachen Mitarbeiter“. Gerade ausgewiesene Spezialisten mit anerkannten Fachkenntnissen, haben oft keine einflußreichen Positionen in der Hierarchie einer Behörde. Solch eine Petition wirbelt natürlich innen wie außen eine Menge Staub auf. Insofern wird sie nur bei schwerwiegenden Sicherheitsbedenken sinnvoll angewandt.
Um es gleich vorweg zu nehmen: Diese Gruppe hat nach eigenem Bekunden nie die Abschaltung aller Reaktoren in den USA im Sinn gehabt. Gleichwohl hat sie (begründete) Bedenken. Sie meint einer bedeutenden Sicherheitslücke auf die Spur gekommen zu sein und meint, daß nicht genug getan worden ist, um die Mängel zu beseitigen. Ungeduld und vorschnelles Handeln kann man ihnen sicherlich nicht unterstellen, da es sich um vier Jahre alte Vorkommnisse handelt.
Was war passiert?
Am 30.1.2012 war es im Kernkraftwerk Byron zu einer Schnellabschaltung gekommen. Ein solches Ereignis ist meldepflichtig und es setzt eine umfangreiche Untersuchung aller Ereignisse ein. Ziel ist es dabei immer, Schwachstellen herauszufinden, diese gegebenenfalls zu beseitigen und anderen Betreibern die Möglichkeit zu bieten daraus zu lernen.
Wie man bald herausfand, war die Ursache ein Bruch eines Isolators an der 345 kV Leitung des Kraftwerks. Der Isolator gehörte zu einer Serie, die falsch gebrannt worden war und somit in ihrem Kern starke Fehler aufwies. Inzwischen gab es einen Rückruf und die fehlerhafte Serie wurde ausgetauscht. Soweit nichts besonderes. Brüche von Isolatoren an Hochspannungsleitungen kommen immer mal wieder vor. Was macht die Angelegenheit aber trotzdem zu einem Sicherheitsproblem?
Dieser Isolator hat eine der drei Phasen gehalten, mit denen einer der Transformatoren zur Eigenversorgung des Kraftwerks verbunden war. Nun sind solche Anschlüsse wegen der erforderlichen Leistungen eher „Stangen“ als „Drähte“. Die Phase riß zwar ab, fiel aber nicht auf den Boden und löste somit keinen Kurzschluss aus. Die Sicherung löste nicht aus. Es gab auch kaum einen Spannungsunterschied zwischen den Phasen. Der Fehler wurde dadurch gar nicht bemerkt und es erfolgte keine automatische Umschaltung auf einen anderen Weg zur Energieversorgung.
Normalerweise ist ein solcher Vorfall nichts ernstes: Man schaltet die Komponente frei, setzt einen anderen Trafo zur Versorgung ein und repariert den Schaden schnellstmöglich. Allerdings muß man dafür den Leitungsbruch bemerken. Hier setzt die berechtigte Kritik ein. Die Unterzeichner der Petition haben systematisch alte Störfälle noch einmal untersucht und dabei festgestellt, daß so etwas bereits häufiger passiert ist. Teilweise wurden solche Fehler erst nach Tagen bei Kontrollgängen bemerkt oder erst infolge von Anfragen des Netzbetreibers „gesucht“. Diesem Problem wurde keine besondere Dringlichkeit beigemessen, da es durchweg nicht zu Schnellabschaltungen kam. Es war einfach nur ein typischer Schaden im nicht-nuklearen Teil des Kraftwerks.
Sicherheitsrelevant oder nicht?
Die Stromversorgung von außen, sollte bei einem Kernkraftwerk immer funktionieren. Deshalb wird sie auch ständig überwacht. Das Tückische an diesem Schadensbild ist jedoch, daß sie eben nicht unterbrochen, sondern nur gestört war. Wenn bei einer Drehstromversorgung nur eine Phase unterbrochen ist, fließt trotzdem noch weiterhin Strom, aber mit geringerer Spannung. Dies wurde von der Meßtechnik auch richtig erfaßt, aber von der Auswerte-Logik falsch interpretiert. Es wurde die Spannungsdifferenz zwischen den Phasen A und B gebildet (die in Ordnung war) und zwischen den Phasen B und C (die geringe Abweichungen hatte, weil Phase C abgerissen war, aber frei in der Luft hing). Wenn die Stromversorgung nicht richtig funktioniert, soll automatisch auf eine andere Strecke umgeschaltet werden oder die Notstromdiesel gestartet werden.
Die Schnellabschaltung ist sicherheitstechnisch der letzte Rat. Um den Reaktor zu schonen, sollte sie so selten wie möglich erfolgen. In der Sicherheitskette ist deshalb eine solche Spannungsüberwachung ein 2-von-2-Kriterium — nur wenn beide Differenzen eine bedeutende Abweichung ergeben, wird von einem schwerwiegenden Fehler ausgegangen. Wenn — wie in diesem Störfall — nur eine Differenzmessung abweicht (weil nur ein Kabel von dreien gebrochen war), wird eher ein Messfehler unterstellt. Die Umschaltung erfolgte später erst durch einen Mitarbeiter, der sich ca. 8 Minuten nach der Schnellabschaltung von der Funktionstüchtigkeit der Schaltanlage vor Ort überzeugte. Er löste die „Sicherung“ von Hand aus, nachdem er die abgerissene Leitung sah und damit seinen Verdacht für den Spannungsabfall bestätigt sah. Ein deutlicher Hinweis, warum man Kernkraftwerke nicht vollautomatisch betreibt!
Kleine Ursache, große Wirkung
Man hat in jedem Kraftwerk intern verschiedene Spannungsebenen um die großen Antriebsleistungen von Pumpen etc. überhaupt bereitstellen zu können. In Byron hingen zwei Hauptkühlmittelpumpen an der „Aussenversorgung“ und zwei an dem eigenen „Generatorsystem“. Zum Anlagenschutz hat jede Pumpe ihr eigenes Überwachungssystem, welches bei einer Überschreitung von Grenzwerten die Pumpe abschaltet. Die zwei Pumpen, die an der „Aussenversorgung“ hingen, haben die Spannungsunterschreitung und die Stromüberschreitung infolge der verlorenen Phase richtig erkannt und sich automatisch abgeschaltet. Die anderen zwei, die am „Generatorsystem“ hingen, waren davon nicht betroffen. Jetzt griff aber die Sicherheitskette ein: Ein Ausfall von zwei Hauptkühlmittelpumpen ist ein nicht zu überbrückendes Abschaltkriterium. Der SCRAM — die Schnellabschaltung — wird unweigerlich und unbeeinflußbar ausgelöst.
Durch die Schnellabschaltung ging die Dampfproduktion und damit die Eigenversorgung in die Knie. Man war damit noch abhängiger von der Außenversorgung. Der Spannungsabfall fraß sich weiter durchs Kraftwerk und setzte nacheinander weitere Großverbraucher außer Gefecht. Plötzlich befand man sich in einer Situation, ähnlich wie in Fukushima: Man hing nur noch von einer „Notkühlung“ über die Notstromdiesel ab. Hier hat zwar alles einwandfrei funktioniert und es sind keinerlei Schäden aufgetreten, aber eigentlich will man nicht so viele „Verteidigungslinien“ durchbrechen.
Die unterschiedlichen Interpretationen
Wie gesagt, der Vorfall liegt vier Jahre zurück. Passiert ist nichts. Das Kraftwerk konnte — nach den üblichen umfangreichen Überprüfungen — wieder angefahren werden. Inzwischen gibt es einige Kilogramm Fachaufsätze, die sich mit dem Problem beschäftigen. Zahlreiche Veranstaltungen sind durchgeführt worden.
Schnell und einfach geht in der (heutigen) Kerntechnik gar nichts mehr. Jede Maßnahme muß genauestens untersucht und kommentiert werden — letztendlich sogar von Juristen. Es gibt inzwischen sogar verschiedene technische Lösungsansätze für das Problem. Alle haben ihre Vor- und Nachteile. Man muß höllisch aufpassen, daß man durch Veränderungen an einer Stelle, nicht neue Probleme an anderer Stelle schafft.
Es geht bei der ganzen Angelegenheit weniger um Technik als um Juristerei. Inzwischen sind alle Kraftwerke und alle Hersteller informiert und arbeiten eng zusammen. Jedes Kernkraftwerk ist ein individuelles Produkt und erfordert damit auch eine spezielle Lösung des Problems. Jeder Einzelfall muß auf seine Auswirkungen bezüglich des Gesamtsystems hin überprüft werden. Eine sehr arbeitsintensive Angelegenheit. Letztendlich streitet man sich um die ewige Frage: Was soll automatisch geschehen und was macht der Mensch? Sollen solche Randbereiche wie ein einzelnes Kabel eines Hilfstransformators in automatische Sicherheitsketten eingearbeitet werden? Wird dadurch die Sicherheit erhöht oder gar verringert? Kann man oder soll man sogar — wegen der Beschäftigung mit solchen Problemen — ganze Kraftwerksflotten stilllegen? Wie lange ist der angemessene Zeitraum, um eine etwaige Verbesserung umzusetzen?
Langsam bildet sich in der kerntechnischen Industrie ein absurd anmutender Drang nach Perfektionismus heraus. Die Abwägung von Risiko und Nutzen geht immer mehr zu Lasten des Nutzens. Was wäre, wenn man jedesmal gleich die Hauptmaschine abstellen würde, weil irgendwo im Maschinenraum ein Teil versagt? Unsere Küsten wären wahrscheinlich längst mit Schiffswracks (auch nuklearen!) gepflastert. Noch absurder wäre die ständige Forderung nach sofortiger Stilllegung der gesamten Flotte. Ganz offensichtlich geht es hier um ganz andere Dinge. Nur konsequente Aufklärung und Transparenz kann die Kerntechnik wieder auf ein Normalmaß zurückholen. Wie wäre es mit der Flugzeugindustrie als Vorbild? Dort wird auch nicht nach jedem Absturz — jedes mal — das gesamte System in Frage gestellt.
Gleichwohl ist das Vorgehen gewisser Presseorgane immer gleich: Man greift Jahre zurückliegende Ereignisse (erinnert sei nur an die Druckbehälter in Tihange und Doel) auf, die längst in der Fachwelt abgehakt, weil vollständig ausdiskutiert sind. Gierig werden einzelne, meist singuläre Ansichten aufgegriffen und daraus vermeintliche Skandale und Vertuschungen konstruiert. Dies alles, obwohl es im Internetzeitalter weniger Klicks bedarf, um sich zu informieren. Ist das Selbststudium zu anstrengend, könnte man ja mal ein paar Fachleute befragen. In wie weit man das noch als „schlampigen Journalismus“ oder schon als „Lügenpresse“ einordnet, muß jeder für sich selbst entscheiden.
Dieser Beitrag wurde zuerst am 20.03.2016 veröffentlicht.