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Blicke in „Schrottreaktoren“

Die Inspektion sehr großer oder dicker Strukturen stellt eine der größten Herausforderungen für zerstörungsfreie Techniken dar. Was also tun, wenn man z. B. einen stark zerstörten Reaktor hat (Fukushima) und dieser auch noch so verstrahlt ist, daß man kaum Roboter – und schon gar keine Menschen – einsetzen kann?

Woher kommen die Myonen?

Die Erdatmosphäre wird ständig mit Partikeln sehr hoher Energie aus dem Weltraum bombardiert. Diese kosmischen Strahlungen interagieren mit den Kernen der Atmosphäre und erzeugen eine Kaskade von Wechselwirkungen und sekundären Reaktionen. Diese Produkte tragen zur (natürlichen) Strahlenexposition bei. Sie nehmen in ihrer Intensität mit der Höhe zu, weshalb die Strahlenbelastung in einem Flugzeug höher ist als am Boden. Die kosmische Strahlung produziert sogar zahlreiche neue Kerne (cosmogenic radionuclides). Bekannt sind H3 (Tritium) und C14 (Altersbestimmung organischer Materialien). Die galaktische Strahlung (Energie von 108 eV bis zu 1020 eV) an der Oberfläche der Atmosphäre besteht zu 98% aus Nukleonen und zu 2% aus Elektronen. An dieser Stelle ist für das Verständnis nur wichtig, daß die Reaktionen in der Atmosphäre über zahlreiche sog. Mutter-Tochter Beziehungen ablaufen und nicht nur neue Kerne entstehen, sondern auch deren Bausteine (Protonen, Neutronen, Elektronen) sowie Elementarteilchen. Auf dem langen Weg durch die Atmosphäre „verschwinden“ die meisten wieder und es bleiben in Bodennähe praktisch nur die Myonen (etwa 75% der Strahlenexposition) übrig.

Myonen haben eine (kinetische) Energie von mehreren GeV. Sie können daher mehrere Kilometer Fels durchdringen, bis sie soweit abgebremst sind, daß sie zerfallen. Es ergibt sich daraus eine technische Anwendung ähnlich der Röntgentechnik. Man kann mit Myonen ein Schattenbild erzeugen: Bereiche unterschiedlicher Dichte erzeugen unterschiedliche „Einfärbungen“. Man bezeichnet international diese Methode als “Muography”. Man muß also den Fluß der Myonen vor dem Objekt kennen und danach messen. Spektakulär war so 2017 die Entdeckung einer bisher unbekannten Kammer in der Cheops-Pyramide.

Anwendung in Fukushima

Schon 18 Monate nach dem Unglück von Fukushima wurde in Los Alamos ein spezieller Detektor fertiggestellt. Diese Anlage ermöglichte es, den Zustand des Reaktormaterials zu bestimmen, ohne den Reaktor betreten zu können. Die Methode ist außerdem zerstörungsfrei, sodaß keine radioaktiven Stoffe frei gesetzt werden. In den Aufnahmen zeichnen sich alle Großkomponenten aus Stahl wegen ihrer höheren Dichte deutlich ab. Uran hat noch mal eine wesentlich höhere Dichte, sodaß die Überreste des Kerns gut zu erkennen sind. Von besonderem Interesse war die Lage: Sprich, war der Kern geschmolzen und aus dem Reaktorgefäß ausgelaufen? Die Aufnahmen zeigten – wie auch durchgeführte Simulationen des Unglücksverlaufs, – daß im Reaktor 1 der Kern vollständig geschmolzen war und aus dem Reaktorgefäß in den darunter liegenden Raum ausgetreten ist. In den Reaktoren 2 und 3 sind etwa 30–40% des Kerns ausgelaufen. Die schlechte Nachricht ist, daß sich eine „Legierung“ aus Brennstoff und Reaktoreinbauten gebildet hat, die stark strahlt und nur schwer zu beseitigen sein wird. Die gute Nachricht ist, daß das „China-Syndrom“ eine Fiktion aus Hollywood ist: Die Schmelze hat sich zwar durch den – gegenüber einem Druckwasserreaktor dünneren – Reaktorbehälter und seine Steuerstabdurchführungen (Siedewasserreaktor) durchgefressen, ist aber auf dem Betonfußboden sofort erkaltet. Eine ausreichende Kühlung des Reaktorgefäßes von außen, hätte trotz des Versagens der Notkühlung die „Verschmutzung“ auf diesen Behälter beschränken können.

Abbruch des G-2 Reaktors in Marcoule, Frankreich

Der gasgekühlte (CO2) Reaktor G-2 (40 MWel) war von 1958 bis 1980 in Betrieb und wird nun abgebrochen. Die Herausforderung für eine Myographie an einem solchen Objekt besteht in den mehr als 20.000 Komponenten. Will man überprüfen, ob die ursprünglichen Zeichnungen noch der Realität entsprechen, benötigt man eine sehr hohe Auflösung. Für einen geordneten Rückbau (Arbeitsschutz) ist dies aber zwingend erforderlich. Die Myographie ist von Natur aus nur ein zweidimensionales (2D) Verfahren. Man kann aber daraus ein dreidimensionales Modell (3D) errechnen, wenn man zahlreiche Schnitte entsprechend überlagert. Dies ist ein seit Jahren in der Medizin erprobtes Verfahren. Beim G-2 Reaktor wurden mit vier Teleskopen 27 unterschiedliche Schnitte erzeugt. Jedes der vier Myonenteleskope hat eine aktive Fläche von 50 x 50 cm und besteht aus vier Ebenen von gasförmigen Mikromusterdetektoren, die „Micromegas“ genannt werden. Sie bestehen aus 1037 Streifen pro Koordinate. Mit einer räumlichen Auflösung unter 200 μm für senkrechte Spuren ergeben alle Teleskope eine Winkelauflösung in der Größenordnung von 1 mrad. Während aller Messungen wurden sie kontinuierlich parallel mit 0,7-Liter/Stunde des sogenannten T2K-Gasgemischs (Ar – iC4 H10 – CF4, Mischung: 95–2–3) gespült. Es werden alle fünf Minuten Korrektur-Rechnungen durchgeführt, die die Zustände des Gases und Schwankungen im Myonenfluss berücksichtigen. Dadurch konnte eine Genauigkeit von maximal 5% eingehalten werden.

Ausblick

Die Methode wird ständig verbessert. Wenn auch der Aufwand an Meßtechnik und Rechenaufwand erheblich ist, gibt es bereits mehrere Anwendungen:

  • Inspektion von Gebinden mit nuklearen Abfällen. Da 𝜶- und β-Strahlen die Fässer nicht durchdringen können, erfolgt insbesondere eine Kontrolle auf Uran und Plutonium. Durch die räumliche Abbildung der Dichteunterschiede ist zumindest eine Überprüfung auf Plausibilität der Begleitpapiere möglich.
  • In vielen Häfen werden Container bereits mit Myographie durchleuchtet. Hier liegt der besondere Vorteil darin, mit ohnehin vorhandener Strahlung auszukommen. Dies vereinfacht den Betrieb und erhöht den Arbeitsschutz. Einige Anwendungen erfordern eine sehr schnelle Objekterkennung (idealerweise weniger als eine Minute), um nur minimale Auswirkungen auf Warteschlangen zu haben. Beispiele sind Ladungsinspektionen für die innere Sicherheit, insbesondere die Verhinderung des Schmuggels von Kernmaterial.
  • Die Myographie wird auch für Schutzanwendungen im Zusammenhang mit der Kernkraftindustrie untersucht. Dazu gehört die Inspektion von Zwischenlagern für abgebrannte Brennelemente, um zu überprüfen, ob die Behälter (Castoren oder Betonbehälter) manipuliert wurden. Indem festgestellt wird, ob ein Bündel entfernt und entweder leer gelassen oder durch ein anderes dichtes Material ersetzt wurde.
  • Die Suche nach radioaktivem Material im Schrott für das Recycling (Hunderte von Vorfällen pro Jahr). Was zu Umweltproblemen sowie wirtschaftlichen Verlusten führt.
  • Es werden bereits Rohrleitungen durch Myographie überwacht. Die Auflösung ist zwar nicht so hoch, wie bei üblichen Röntgenverfahren, aber es müssen dafür keine Isolierungen etc. entfernt werden.
  • Es können Strukturen im Boden abgebildet werden, indem man ein senkrechtes Loch für einen Detektor bohrt.
  • Mit der Myonenflussdämpfung kann die Innengeometrie eines komplexen Gebäudes zugeordnet werden. Die Stabilität eines Gebäudes kann durch zwei Myonenteleskope dauerhaft überwacht werden. Jede Abweichung, die mit der Zeit erscheint, würde auf eine Verformung der Struktur hinweisen.